An das Waldviertel

Du bist der Heimat ärmstes Land,
verschollen, voll Stille und Ruh’.
Äcker und Heiden sind dein Gewand.
Der Wald deckt die Blößen dir zu.

Und wie Flicken im groben, kargen Kleid
sind die Moore, die Bühel aus Stein.
Nicht Wein und Weizen, dir, Land, gedeiht
kaum die Knolle, der Roggen, der Lein.

Ein Keuschler neben den Bauern,
den reichen, birgst du dich scheu.
Erdstrich unter dem rauhern
Himmel, dich lieb’ ich treu.

Wilhelm Szabo

                                                                                                              Wilhelm Szabo  1962 

Herkunft________________________________________________________________________________________________

Am 30. August 1901 brachte die zweiundzwanzigjährige Agnes Szabo, wohnhaft in Krems an der Donau, Hoher Markt 11,  im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien im Alsergrund einen Buben zur Welt, der am nächsten Tag auf den Namen Wilhelm getauft wurde. Agnes Szabos ungarischer Großvater Michael Szábo war Zuckerbäcker und ist Mitte des 19. Jahrhunderts aus Tiszaföldvar, einer etwa 100 km südöstlich von Budapest gelegenen Kleinstadt, nach Krems eingewandert. Sie lebte unverheiratet mit dem Vater des Buben (Theodor Kovacs), einem ungarischen Sänger zusammen. Auch sie war Sängerin und Pianistin und stellte sich gemeinsam mit ihrem Partner den harten wirtschaftlichen Bedingungen eines Künstlerlebens, verbunden mit sehr unregelmäßigen Arbeitszeiten, häufigen Auswärtsengagements, Unsicherheit folgender Beschäftigung und mäßiger Bezahlung. Unter diesen Bedingungen war kein Platz für ein bürgerliches Familienleben und kein Platz für Kinder. Bei der fehlenden sozialen Absicherung in dieser Zeit, bedeutete dies in aller Regel, dass möglichst im Rahmen des familiären Umfelds eine betreuende Familie gefunden werden musste, die gegen geringe Bezahlung Pflege und Erziehung der Kinder übernahm.

Wiener Taufeintrag Wilhelm Szabos von 1901

Der kleine Wilhelm kam zu entfernten Verwandten des Vaters , die bei Steinamanger (ungarisch Szombathely) lebten. Der Ort lag etwa 100 km südlich von Wien und nur wenige Kilometer hinter der ungarischen Grenze, zudem in einer klimatisch begünstigten Lage.  Das Pflegeverhältnis war harmonisch und dem kleinen Wilhelm war ein Aufwachsen im  Sprach- und Kulturkreis des ungarischen Vaters angebahnt. Die Mutter stand dem kritisch gegenüber, sie wünschte sich eine deutsch geprägte Zukunft für ihren Sohn. Auch die damaligen gesetzlichen Bestimmungen sahen für solche nationalitätsgemischten Elternschaften bei unverheirateten Paaren eine Erziehung im Rahmen der mütterlichen Nationalität vor.  Die Chance auf eine glückliche Jugend in liebevoller familiärer Umgebung wurde zerstört, Wilhelm wurde im Alter von etwa 18 Monaten in ein Wiener Kinderheim verbracht, da im mütterlichen Umfeld zunächst keine familiäre Unterbringung möglich war.

Als die in Krems wohnende und ebenfalls unverheiratete Großmutter nach einigen Wochen im abgelegenen und rauen Waldviertler Hinterland von Krems eine Pflegestelle fand, holte die neue, verwitwete Pflegemutter den Buben im Wiener Pflegeheim ab. Wilhelm Szabo beschreibt diese Reise seiner neuen Ziehmutter und seinen 12 Jahre dauernden Aufenthalt bei ihr, bildhaft in seiner autobiografischen Jugendbeschreibung als „Zwielicht der Kindheit“, erschienen 2001 unter dem Titel Dorn im Himbeerschlag.

Die Ziehmutter

Witwe, die niemals den Schlummer
eigener Kinder bewacht,
du neigtest dein Antlitz voll Kummer
zum Bette des Findlings zur Nacht.

Patin warst du dem Mündel,
Mutter dem Niemandskind.
Du wandertest oft mit dem Bündel
der Botin durch Nässe und Wind.

Du mähtest im Dämmern am Raine.
Du suchtest das Klaubholz im Schnee.
Du fandest das Heilkraut im Haine.
Im Betbuch bargst du den Vierblattklee.

Du bangtest, wenn dir geringer
die Wiese, das Äckerlein trug.
Du tunktest die rauhen Finger
vornacht in den Weihbrunnkrug.

Wenn ich der Ahnin begegne,
den Mägden im greisen Haar,
den bresthaften Weiblein, ich segne
in ihnen dich immerdar.

Wilhelm Szabo

 Meine Kindheit war die harte und ärmliche eines Findelknaben. Ich verbrachte sie bei kleinbäuerlichen Pflegeeltern in dem Dorf Lichtenau bei Gföhl  im südlichen Waldviertel.

Wilhelms neue Ersatzmutter war die 46-jährige Theresia Dörr aus Lichtenau im Waldviertel. Sie war das ledig geborene Kind einer Bauerntochter aus dem naheliegenden Albrechtsberg. Da ihr eine berufliche Zukunft als Bäuerin nicht offenstand und auch eine gewerbliche Tätigkeit mangels Ausbildungsmöglichkeiten nicht infrage kam, blieb ihr nur der Weg einer versorgenden Ehe. Zweimal war sie bei Wilhelms Ankunft schon verheiratet gewesen, beide Ehemänner waren Landbriefträger, doch 1891 und 1902 wurde sie Witwe. Danach entschloss sie sich ihren kargen Lebenunterhalt durch die Aufnahme von Pflegekindern zu verdienen. Zu dieser Zeit hatte sie nur ein anderes Kind bei sich, den Sohn einer früh verstorbenen Schwägerin. Das Haus in dem sie mit ihren Pflegekindern lebte war ein Gemeindehaus und lag etwas abseits, dort wo die Dorfstraße in die vorbeiziehende Landstraße einmündete. Es steht noch heute so breit und behäbig unter seinem weiten Walmdach und mit seiner ockergelben Bemalung mit weißen Simsen an dieser Ecke und trägt die gleiche Hausnummer 28 wie 1903. Theresia Dörr und ihre Kinder lebten in diesem stattlichen Haus allerdings nicht allein. Die Gemeinde hatte alle „Gewerke“ von denen ein Gefährdungspotenzial ausging darin vereint, die Schmiede mit ihrer Brandgefährdung, eine Arztpraxis mit Infektionsrisiken und eben ihre Pflegefamilie mit teils sozial schwierigen Pfleglingen.

Das Haus-Nr. 28 auf einer Militärkarte um 1870. Es liegt direkt über dem e von Lichtenau an der Umgehungsstraße
Die Karte der Urkatasteraufnahme aus dem Jahr 1823 zeigt das Dorf Lichtenau im Waldviertel noch ohne die Umgehungsstraße und ohne das Haus Nr. 28
Haus-Nr. 28 in Lichtenau 2024
Haus-Nr. 28 in Lichtenau 2024

So manches Pflegekind kam, so auch etwa 2 Jahre nach Wilhelm seine jüngere Schwester Erika (*1903). Die Pflegemutter versorgte alle ordentlich, das Zusammenleben war nicht immer unproblematisch, doch die kleinen Szabos hatten sich gut eingelebt. 1907 kam es zu einer bedrohlichen Veränderung der Gemeinschaft, insbesondere Wilhelms Verbleib kam ernstlich in Gefahr. Theresia Dörr hatte auf einem Ball im Dorfgasthaus Kontakte zu einem Dorfbewohner geknüpft, dessen Ehefrau sterbenskrank war. Nachdem sie im Juli gestorben war drängte der Bewerber Karl Röhrl, ein Straßenwärter und Kleinhäusler aus dem Dorf, immer vehementer auf eine Heirat und forderte im Gegenzug von Theresia Dörr die Aufgabe der Pflegetätigkeit. Insbesondere Wilhelm, der kein gutes Verhältnis zu ihm hatte, hätte kein Verbleiben gehabt. Doch die Ziehmutter hielt unbeirrt zu ihren Kindern und setzte letztendlich durch, dass alle bleiben durften. Ende Oktober wurde geheiratet und kurz danach zog die ganze Pflegefamilie um ins schäbige, verwinkelte und verkommene Kleinhäusl mir der Nummer 23, das mitten im Dorf lag. Doch auch dort ging das Leben unverändert weiter. Der jetzt Sechsjährige kam in die Schule, fand neue Freunde und erlebte neue Kränkungen, wurde Ministrant und Freund des Pfarrers, wollte und sollte Priester werden, sprang aber in letzter Sekunde ab und immer und immer wieder musste er erleben, dass er als Findelhauskind ganz unten in der sozialen Hierarchie des Dorfes stand. Selbst der Versuch durch Bildungsanstrengung eine bessere Zukunft zu erreichen wurde als Hochmut gebrandmarkt.Es gibt erste Liebeleien und Einblicke in Erotisches, einschließlich homoerotischer Bedrängung. Und es kommt der Tag des vierzehnten Geburtstag, der Tag da diese schwierige, doch von einer aufopfernden Ziehmutter behütete Kindheit ihr Ende findet. Die eigene Familie, Mutter und Großmutter haben wenig Anteil an ihm genommen. Doch jetzt kommt die ungeliebte Großmutter und holt ihn ab in ein neues Leben.

Viele Jahre später setzt er seiner Pflegemutter mit seinem Gedicht „Die Ziehmutter“ ein literarisches Denkmal.

In Lichtenau versterben Theresia Röhrl, verwitwete Dörr 1939 und ihr Mann Karl 1940. 

Ob Wilhelm Szabo sie jemals wieder gesehen hat?

Zumindest hat er den Ort Lichtenau lange gemieden. Als er ihn spät doch noch einmal besucht, findet er ihn sehr verändert, seine Eindrücke davon verarbeitet er in seinem Gedicht „Den Flegeltakt noch im Ohr

Den Flegeltakt noch im Ohr

Den Flegeltakt noch im Ohr,
Wetzsteinschall, Schnittergedengel,
hör ich im Roggen, dem gelben,
die Mähdrescher toben.

Den Aufmarsch der Hocken ersehnend,
der Regimenter der Schober,
seh ich die Stoppeln mit Ballen
leblosen Strohs sich bevölkern.

Und suchend das Dorf meiner Kindheit,
das lang gemiedne,
find’ ich zementne Gehäuse,
aufgestellt um einen Silo.

Wilhelm Szabo

Die autobiografischen Kindheitserinnerungen Wilhelm Szabos machen mich nachdenklich und werfen Fragen auf, z.B. warum er fast nichts über das Verhältnis zu seiner Schwester Erika schreibt.

Berufliche Ausbildung_________________________________________________________________________________

Nach der Schulentlassung war ich eine Zeitlang Tischlerlehrling in Wien. Es waren die dunkelsten und verschattetsten Monate meines Lebens, voll von Verlassenheit und Heimweh. Später ermöglichte mir ein Glücksfall den Besuch des St. Pöltener Lehrerseminars.

Wilhelm Szabos Wunsch nach einer gymnasialen und folgender akademischer Ausbildung ließ sich nicht realisieren. Der Anschluss an diese Schiene wurde versäumt und konnte nicht aufgeholt werden. Zudem war im letzten Jahr seines Lichtenauer Aufenthaltes der Erste Weltkrieg ausgebrochen, der „ruhmreiche“ Feldzug entwickelte sich zu einer unvorhergesehenen Katastrophe, ja zum völligen Auseinanderbrechen des gesamten Habsburgerreiches. Es kam nun darauf an schnell einen Platz zu finden, der zumindest die Deckung der Grundlebenskosten ermöglichte. Doch wer sollte sich darum kümmern? Der 14-jährige Wilhelm konnte das wohl kaum und die, die ihn 14 Jahre vernachlässigt hatten, auch nicht. So stand er wieder einmal ganz hinten in der Schlange aller Bewerber. Er musste als Kellnerjunge arbeiten, konnte nach längerer Zeit wechseln auf einen fachlich inhaltsreicheren Ausbildungsberuf und begann eine Schreinerlehre. Doch er war mit dem eingeschlagenen Weg in die Zukunft unglücklich und die Suche nach einer besseren Ausbildung und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft beherrschten sein Dasein. Ein Lichtblick im Elend war das Elend eines ganzen Berufsstandes seiner Waldviertler Heimat, denn es bestand ein extremer Lehrermangel in den abgelegenen nördlichen Regionen Niederösterreichs, besonders auch, weil deren Bezahlung extrem gering war. Die Lehrerbildungsanstalt in St. Pölten suchte dringend Ausbildungswillige und Wilhelm Szabo konnte nicht nur einen Platz, sondern auch ein Stipendium zur Deckung der Lebenshaltungskosten erhalten. Seine Zukunftsaussichten waren damit zwar nicht golden, sondern karg, aber verlässlich gesichert und er wollte und konnte den entbehrungsreichen Weg dahin auf sich nehmen.

1921 war die Ausbildung geschafft und sein neues Leben als Volksschullehrer in winzigen, einsamen Dörfern im nördlichen Waldviertel konnte beginnen.

Berufsleben als Lehrer im Waldviertel_______________________________________________________________

Inschrift auf dem Gedenkstein in Siebenlinden

Im Waldviertel des Waldviertels, im rausten Teil eines rauen Landes, hoch oben und nahe der südböhmischen Grenze lag, im Umkreis der Stadt Gmünd, Szabos neuer Wirkungskreis. In kleinen Dörfer, abgelegen, ohne ausreichende soziale Kontaktmöglichkeiten war das Leben einsam. Dies war der Preis für den die gewonnene Sicherheit eingetauscht wurde. Als Lehrer durchaus geachtet, aber nicht immer auch geschätzt war seine Stellung.

Die seit 1921 erstmals zweiklassig geführte und dadurch für Anfänger besonders geeignete Dorfschule Siebenlinden war, nach einem Einsatz in Gopprechts, ab 1924 sein zweiter Einsatzort. Seit 1996 steht dort nahe der Schule ein Denkstein für ihn und seine Zeit als Siebenlindens Dorflehrer. Damals musste er von den Bewohnern reihum verköstigt werden, da er sich ledig und unversorgt und vom örtlichen Wirt abgewiesen, nicht selbst ernähren konnte. Sieben Jahre blieb er in Siebenlinden, danach folgte ein Jahr in Unserfrau am Sand. Nachdem er durch eine Laufbahnprüfung die endgültige Befähigung zum Lehrer erreicht hatte, kam er als Hauptschullehrer nach Gmünd und 1933 in seine endgültige Verwendungsschule nach Weitra.

Die Arbeit mit und für die Kinder gab Befriedigung und Gelegenheit das besser zu machen, was er immer entbehren musste, zuwenden, ernst nehmen, anleiten, führen und begleiten, statt bevormunden und demütigen.

Glücklicherweise war Szabo nicht nicht ganz allein hierher in die abgelegenste Gegend Niederösterreichs. gekommen. Er hatte Abschluss gefunden zu anderen Zöglingen in den niederösterreichischen Lehrerseminaren und war zusammen mit einem Kollegen in diesen Bezirk geschickt worden, dessen Freundschaft beide für den Rest ihres Lebens verband. Dies war der ebenfalls 1901 in Wien geborene und auch aus armen Verhältnissen stammende Wilhelm Franke. Sie trafen sich, wann immer es ging, auch mit anderen Junglehrern zu einem Gedankenaustausch auf gleichberechtigter Ebene, was in ihrem Leben zuvor für manchen nicht selbstverständlich war. 1932 erschien in der Zeitschrift Das Waldviertel (5. Jahrg./Folge 4, S. 62-69 ) sogar ein Bericht über die zwei Lehrer und Lyrikerfreunde.

Wilhelm Franke 1901 - 1979
Gedenktafel an der Hauptschule Gmünd

Das Leben im abgelegenen Waldviertel hatte auch gute Seiten, es ging unbeeinträchtigt durch die politisch und ökonomisch unruhigen zwanziger Jahre langsam bergauf. Die berufliche Stellung verbesserte sich und es gelang Szabo nach einem Einsatz in Unserfrau am Sand an größere und besser ausgestattete Schulen in den kleinen Städten versetzt zu werden, zunächst als Hauptschullehrer nach Gmünd und später nach Weitra.

Eine Gedenktafel an der Hauptschule Gmünd kündet noch heute von der Tätigkeit Szabos und seines Freundes Wilhelm Franke.

Das weitere Leben schien trotz der politischen Umwälzungen der dreißiger Jahre auf guten Bahnen weiterzugehen, doch es kam ganz anders. 1937 heiratete Szabo die 15 Jahre jüngere Wiener Jüdin Valerie Gans, eine Tochter aus gutem Haus, künstlerisch und kunstgewerblich ausgebildet um einem Lehrer und Autor eine passende Lebensbegleiterin sein zu können. Ahnte er das damit ausgelöste Unheil nicht,  heiratete er trotzdem, oder gerade deswegen, um ihr seinen vermeintlichen Schutz zu gewähren?

Bislang war Szabo, der sich mit seiner linkskatholischen Lebenseinstellung nicht hinter dem Berg hielt, wohl durch die schützende Hand des Kreisleiters und NS-Reichstagsabgeordneten Hermann Reisinger, einem Lehrerkollegen, von schärferen Repressalien verschont gewesen. Doch diese Verbindung forderte die Staatsmacht demonstrativ heraus. 1938 wurde er, nicht zuletzt deshalb, aus dem Staatsdienst entlassen, seine bisherige, durch fast zwanzigjährige mühsame Arbeit aufgebaute Lebensgrundlage wurde ihm unter den Füßen weggezogen. Auch in dieser Situation rettete ihn die Einsamkeit des abgelegenen Waldviertel. Fernab aller politischen Zentren überlebte er vor allem durch die Hilfe des Stiftes Zwettl, das ihn aushilfsweise als Organist, Waldarbeiter und für sonstige Hilfstätigkeiten beschäftigte. Zeitweise war er auch als Lektor für den Münchner Verlag Karl Alber tätig.

In späteren Jahren hat Szabos Ehefrau den Doppelnamen Lorenz-Szabo geführt. Deshalb wird häufig ihr Geburtsname als Lorenz angenommen. In Wilhelm Szabos Taufeintrag sind, wie üblich, Eheschließung und Tod nachgetragen. Darin wird die Ehefrau als Valerie Gans bezeichnet. Dieser Familienname war in der jüdischen Gemeinde Wiens verbreitet. Lorenz war der Geburtsname ihrer Mutter Elisabeth Gans, geborene Lorenz.  Valerie ist zwar in Wien geboren, aber in Gmünd im Waldviertel aufgewachsen. Ab 1928 ist die Familie des Bankdirektors Arthur Gans mit der Anschrift Weißgerberlände 26 in den Wiener Adressbüchern nachweisbar (Im vorigen Adressbuch von 1926 noch nicht). Letzter Eintrag im Jahr 1938, in diesem Jahr ist die Familie ins Ausland geflohen und dadurch der Vernichtung entgangen.

Nach dem Krieg wieder in den Schuldienst aufgenommen stieg seine Laufbahn beschleunigt weiter, zum Schuldirektor in Weitra und Schulrat. 1966 konnte er als Oberschulrat in Pension gehen. Da sein Plan, auch sein Alter im Waldviertel zu verbringen, sich nicht verwirklichen ließ, da er keine geeignete Wohnung fand, zog er mit seiner Frau nach Wien-Döbling, da er sich dort verstärkt seinen literarischen Interessen widmen konnte.

Wilhelm Szabo als Schriftsteller_______________________________________________________________________

Zur Dichtung bin ich früh, schon mit zehn, elf Jahren, gekommen. Meine erste nachhaltige Begegnung mit ihr vollzog sich an Hand alter Mittelschullesebücher und Leitfäden der Literaturgeschichte, die sich auf dem Dachboden der Dorfschule fanden. Es waren besonders Gedichte von Lenau, Mörike, Eichendorff, Heine, die in mir einen starken Widerhall weckten und den Wunsch, Verse zu schreiben, wachriefen. Ein erstes, unreifes und längst verschollenes Gedichtbändchen veröffentlichte ich bereits mit zwanzig Jahren. Eine zweite Sammlung, die ich zwischen meinem 21. und 25. Lebensjahr schrieb und die dörfliche Poesien von noch unentschiedener Haltung vereinigte, ist ungedruckt geblieben.

Szabo und Franke verband nicht nur die Parallelität ihrer Lebensläufe, sondern weit darüber hinaus ihr Streben zur Literatur. Szabo hatte schon 1922, in wirtschaftlich schlechtester Zeit, im Lilienfelder Verlag von Ferdinand Wurm ein kleines Bändchen mit Gedichten drucken lassen. Verklärte Stunden, so der Titel des Erstlings, ist heute fast unauffindbar, selbst Szabos Nachlass enthält kein Exemplar.

Doch die restlichen zwanziger Jahre vergingen mit viel harter Arbeit im Dienst des Waldviertler Nachwuchses, für Buchprojekte gab es weder Zeit noch Mittel. Dies änderte sich erst grundlegend Anfang der dreißiger Jahre, als sich ein größerer Kreis von niederösterreichischen, vorwiegend aus dem Waldviertel stammenden Autoren zusammentat. Unter ihnen war, neben Szabo und Franke, der ebenfalls 1901 geborene und im St. Pöltener Lehrerseminar ausgebildete Lehrer Walter Sachs (1901-1985) aus Traisen. Auch seine erste Buchveröffentlichung „Vorfrühling“ erfolgte 1921 in Ferdinand Wursts Lilienfelder Verlag. Da Lilienfeld nahe bei Traisen liegt, darf wohl vermutet werden, dass Sachs die treibende Kraft bei beiden Veröffentlichungen war. Die wohl wichtigste Person dieses Dichterkreises war Friedrich Sacher, Germanist und Lehrer in Klosterneuburg. Dessen Erstveröffentlichung Das große Suchen. Ein Buch vom Ich erschien ebenfalls 1921, im Gegensatz zu Szabo und Sachs veröffentlichte er jedoch in den folgenden Jahren mehrere weitere Bücher.  Szabo hatte eine engere Verbindung zu Sacher, fungierte er doch 1932-34 als Herausgeber von dessen Gesammelten Schriften in 3 Bänden.

Autograph von Wilhelm Szabo
Umschlag der ersten Anthologie der "Gruppe" aus dem Jahr 1932
Anthologie der Gruppe 1935: Titel
Anthologie der Gruppe 1935: Gedicht Szabos

Dieser Freundeskreis war eines der Kristallisationszentren einer österreichischen Autorengruppe die Ende der zwanziger Jahre zusammenfand. Unter ihnen waren Richard Billinger,  Hans Leifhelm, Paula Ludwig, Josef Weinheber und Julius Zerzer. Das insbesondere von Szabo verfolgte Ziel war die Veröffentlichung einer gemeinsamen Anthologie ihrer Gedichte. Das Buch erschien auch 1930, herausgegeben von Friedrich Sacher, im Wiener Krystall Verlag unter dem Titel „Anthologie junger Lyrik aus Österreich“.

Unter der Bezeichnung „Die Gruppe“ blieben die Autoren in den folgenden Jahren unter geringer Fluktuation zusammen und veröffentlichten 1932 und 1935  – Die Gruppe wurde zwischenzeitlich auf 12 Lyriker erweitert –  noch zwei Anthologien, eine weitere war für 1938 geplant, erschien aber nicht mehr.

Die Autoren hatten durch die jahrelange Zusammenarbeit eine verlegerische Heimat beim Wiener Krystall Verlag gefunden und ließen auch ihre Einzelveröffentlichungen dort herausbringen.

So trat Wilhelm Szabo 1932 als Herausgeber für die Gedichte von Friedrich Sacher auf, 1933 folgten seine eigenen Gedichte unter dem Titel Das fremde Dorf. Das vielleicht wichtigste Buch Szabos, das ihn als Lyriker schnell bekannt gemacht hat. Er thematisiert darin seine „Gefangenschaft“ in den abgelegenen Dörfern des nördlichen Waldviertels, Anti-Heimatdichtung und negative Heimatliteratur nennen es seine Kommentatoren und Kritiker.

Im gleichen Jahr erschien Wilhelm Frankes erster Lyrikband Wirrnis und Weg, 1938 folgten weitere Gedichte unter dem Titel Wanderer im Waldland, beides bei Krystall. Wilhelm Szabo, für den in der Blut-und-Boden-Kunst des NS-Regimes kein Platz vorgesehen ist muss in diesem Jahr gezwungenermaßen zurücktreten ins Dunkel der Dörfer, es wird mehr und mehr, aber auch lange still um ihn. Zum Glück für ihn, denn nur so kann er mit seiner jüdischen Frau diese dunkle Zeit überstehen.

Trotz der drohenden Gefahr bleibt er aber nicht stumm. 1940 veröffentlicht er einen weiteren Lyrikband Im Dunkel der Dörfer, der neben neuen Gedichten auch viele aus Das fremde Dorf enthielt. Es war das erfolgreichste Buch Szabos, das in insgesamt 5 Auflagen gedruckt wurde. Möglich war die Veröffentlichung nur unter strengen inhaltlichen Auflagen, zudem nur durch einen Befreiungsschein der Reichsschriftumskammer und die intensive Unterstützung durch Josef Weinheber.

Anthologie der Gruppe 1935: Umschlag

Nach dem Zweiten Weltkrieg______________________

Wilhelm Szabo am Ende des Krieges 1945

Doch auch die dunkelste Zeit findet einmal ihr Ende, 1945 endet der Krieg, die NS-Herrschaft geht unter, das Land ist zerstört, zerbricht, der Rest wird geplündert und versinkt in Scham, Armut und Hunger.  Doch es ist nicht nur der Hunger nach Nahrung, sondern auch der nach geistiger Erneuerung. Der lange geknebelte Buchmarkt erlebt bald eine unvorhergesehene Blüte, lange zurückgehaltene verborgene Texte kommen ans Licht. Auch Wilhelm Szabo nutzt die Gunst der Stunde und veröffentlicht 1947 einen seiner wichtigsten Gedichtbände,  Das Unbefehligte. Ein schmales Bändchen, 48 Seiten für 29 Gedichte reichen aus, dass der Kölner Gemanist Jörg Thunecke schreibt  – ……Lyrik, die direkt nach dem Kriege in einem dünnen Bändchen mit dem ungewöhnlichen Titel Das Unbefehligte (1947)32 veröffentlicht wurde und zur besten Dichtung der inneren Emigration im deutschen Sprachraum zählt.  –

1947 "Das Unbefehligte" Umschlag und Titelblatt
Neiidhart von Reuental, Abbildung aus dem Codex Manesse

Wie die zwei vorherigen Lyrikbände unmittelbar aus der Bewältigung seiner Lebensumstände im rauen und einsamen Waldviertel entstanden sind, so zeigt schon der neue Titel, dass es jetzt um die befehlsreiche Zeit des Krieges und der NS-Herrschaft geht. Szabo setzt sich in diesem Buch mit seinem Leben, seinem erneuten Leiden dieser Jahre auseinander. Doch die österreichische Nachkriegsgesellschaft will diese Abrechnung nicht, der Erfolg bleibt aus.

Diesmal dauert es sieben Jahre, bis er ein neues Lyrikbuch erscheinen lässt, 1954 im renommierten Otto Müller Verlag in Salzburg. Ort und Zeit des Erscheinens sind sicherlich nicht ganz zufällig gewesen, erhält er doch in diesem Jahr den in Salzburg, erst zum zweiten Mal vergebenen, Trakl-Preis, allerdings zusammen mit Michael Guttenbrunner, Christine Busta und Christine Lavant. Das handliche Bändchen mit seinem revolutionär einfachen Kunststoffumschlag ist thematisch breiter angelegt, Szabos Leben beginnt seinen Blick nicht mehr ins, sondern hinaus aus dem Waldviertel auszurichten. Der erhoffte Erfolg bleibt aus, es zeigt sich, dass die elementar-expressive Kraft seiner frühen Lyrik erlahmt ist. Szabo wird zum Literaten. Er ist seit 1950 im österreichischen PEN-Zentrum tätig, pflegt Kontakte zu seinen Schriftstellerkollegen, insbesondere zu Otto Basil in Wien, lebt von früherer Ausstrahlung und bereitet sich auf seine Wiener Zukunft vor.

1960 ein erster Band in der weit verbreiteten Reihe der Stiasny-Bücherei (Nr. 73), über einen der bedeutendsten Lieddichter des Mittelalters, Neidhart von Reuental. Szabo überträgt darin eine Auswahl von Neidharts bekanntesten Liedern. 1965 folgt der Lyrikband Landnacht, 1966, kurz bevor Szabo als Oberschulrat in Weitra pensioniert wird, als weiterer Band der Stiasny-Bücherei (Nr. 167), eingeleitet und ausgewählt von Johann Gunert, Schnee der vergangenen Winter. Dieser enthält auch erstmals kurze Prosa. Unter dem Titel Niemandskind berichtet er autobiografisch über seine Waldviertler Jugend.

Titelblatt von "Herz in der Kelter 1954
Landnacht Umschlag 1966

 

 

 

 

 

Im gleichen Jahr zieht er mit seiner Frau nach Wien-Döbling. Ein völlig neuer Abschnitt seines Lebens beginnt. Von den Pflichten des Alltags befreit, will er sich fortan ganz seiner schriftstellerischen Neigung widmen.

Stiasny-Bücherei Nr. 167
Trauer der Felder 1970 Einband, Titel und Druckvermerk mit Signatur des Illustrators Paul Zwirchmayr

Seine Energie floss jedoch nur wenig in die Veröffentlichung eigener Werke, sondern vielmehr in Funktionärstätigkeiten im Dienst der Schriftstellerkollegen. 1970 erschien unter dem Titel Trauer der Felder noch ein lang vorbereitetes Herzensprojekt Szabos, Nachdichtungen von Gedichten des russischen „Bauerndichters“ Sergej Jessenin. Dafür hatte er sich extra russische Sprachkenntnisse angeeignet. Weitere Übertragungen fertigte er von den US-amerikanischen Kolleg(inn)en Elinor Wylie und Robert Frost.

Schallgrenze, ein letzter Lyrikband kam 1974 heraus. Er saß, wie viele andere Schriftsteller seiner Generation in der Falle der zu langer Untätigkeit Gezwungenen und den Anschluss Verlorenen. Die Vorkriegstexte erhielten zwar den Respekt der Leser, allerdings unter gleichzeitiger Zuweisung der Altväterlichkeit, neue, in moderneren Formen geschriebene Arbeiten, blieben, durchaus gelobt, aber wenig beachtet und wenn, dann unter dem Verdacht der Anbiederung stehend.

Ein erster Sammelband der Gedichte Wilhelm Szabos erschienen 1981 unter dem Titel "Lob der Dunkels"

Wilhelm Szabo und der Neulengbacher Literaturkreis "Podium"______________________

Hauptbetätigungsfeld Szabos wurde ab 1971 der durch seinen Anstoß neu gegründete Neulengbacher Literaturkreis „Podium“. Er und seine Schriftstellerkollegen und -kolleginnen hatten bis dahin ihre organisatorische Heimat unter dem Dach des Niederösterreichischen Bildungs- und Heimatwerkes. Ihre Stellung darin war schwach, die staatlichen Förderungen flossen überwiegend in die Kassen der bodenständigen Volkstumsvereine der Trachten- und Volksmusikbewegung. Nach vorbereitenden Treffen in Wiener Cafehäusern formierte sich die neue Gruppe bei einem Treffen am 15. Januar 1971 und Anfang März 1971 kam es unter Szabos Führung zu einem öffentlichen Schlagabtausch mit der altstrukturierten Obrigkeit.

Der gesamtösterreichisch am 3. März 1971 proklamierte Tag der Lyrik wurde boykottiert. Szabo und seine Mitstreiter, unter ihnen Jeannie Ebner, Alfred Geßwein, Ilse Tielsch und Alois Vogel, veranstalteten zwei Tage später ihren eigenen Lyriktag und verteilten dabei 50 000 Flugblätter mit ihren Gedichten. Der Erfolg dieser Gegenaktion gab Auftrieb und man traf sich am 20. März in Schloß Neulengbach im Wienerwald zu einer konstitutionellen Sitzung auf der zur Schaffung einer neuen Arbeits- und Vertretungsplattform der niederösterreichischen Schriftsteller der Neulengbacher Literaturkreis „Podium“ mit seinem ersten Vorsitzenden Wilhelm Szabo gegründet wurde.  Am 29. April 1971 stellte sich der neu gegründete Neulengbacher Literaturkreis „Podium“ mit einer Lesung in St. Peter an der Sperr vor. Den Reigen der Lesenden eröffnete Wilhelm Szabo als Vorsitzender des Vereins mit seinen traditionellen Gedichten, die die Herzen der konservativen Zuhörerschaft eroberten.     

Mit dem Podium war zwischen dem Österreichischen PEN-Club und der mit ihm verfeindeten Grazer Autorenvereinigung ein dritter, neutraler Schriftstellerverband in Österreich entstanden, der allen Autoren offenstand. Eine ideale Voraussetzung für die weitere Entwicklung und so begann damals eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die von Wilhelm Szabo bis zu seinem krankheitsbedingten Ausscheiden 1986, als Vorsitzender maßgeblich mitgestaltet wurde. Das Podium ist noch heute aktiv und hat in den vergangenen 53 Jahren hunderte von Lesungen und zahlreiche Symposien veranstaltet. Die Zeitschrift des Vereins erscheint vierteljährlich und steht aktuell bei Nummer 214, eine Reihe mit Autorenporträts wird seit dem Jahr 2000 herausgegeben, der neueste Band (jeweils 64 Seiten) trägt die Nummer 130. Seit 1973 gibt das Podium jährlich zum Tag der Lyrik ein Lyrikflugblatt heraus mit etwa 25 Gedichten österreichischer Autor(inn)en. Der Verein veranstaltet Lesereihen, eine multimediale Literaturperformance und vergibt alle zwei Jahre einen hochdotierten Literaturpreis.

Bericht von Albert Janetschek über die erste Lesung des neuen Neulengbacher Literaturkreises "Podium" in den Wiener Neustädter Nachrichten 1971 (Ausschnitt betr. Wilhelm Szabo)
Bei einer Lesung
8 Fotos von Wilhelm Szabo aus dem Jubiläumsband des Neulengbacher Literaturkreises zum 40. Bestehen des Vereins
Christine Busta und Wilhelm Szabo
1974

Zusammenfassung, Ausblick, Fragen zu Wilhelm Szabo _____

Das Leben Wilhelm Szabos zog an uns vorüber, vieles lag klar vor uns, doch vieles blieb uns auch verborgen, die Beziehung und der Kontakt zur Mutter, zu seiner Schwester Erika, zur Großmutter und zu anderen Verwandten. Viele Fragen tun sich auf und das, obwohl es reichlich Literatur über ihn und sein Leben gibt.

Spielte der Vater wirklich keine Rolle in seinem Leben?   Wer half ihm in den WienerTagen seiner   ..dunkelsten und verschattetsten Monate seines Lebens, voll von Verlassenheit und Heimweh …, dass es ihm doch gelingen konnte die entscheidende Wende seines Lebens zu ermöglichen.

Die Erlebnissein seiner frühesten Jugend, das Herausreißen aus einer elternähnlichen, liebevollen Erziehungssituation, das kurze Intermezzo in einem Wiener Kinderheim und der Neuanfang unter Verlust aller Bezugspersonen und sogar der eben verinnerlichten ungarischen Sprache, haben tiefe Kratzspuren in seiner emotionalen Basis hinterlassen. Die neue Pflegesituation ohne Vaterersatz, dafür mit wechselnden „Brüdern und Schwestern“ hat nicht vermögt den Schaden auszugleichen. So trug er schon bald ein unerschütterliches Lebensziel in sich, entstanden aus der sehr frühen Erkenntnis des Aus-dem-Nest-gefallen-Seins und dem Bewusstsein, eine tiefe Kerbe überstehen zu müssen, ein Gefühl, das einer unmittelbaren Todesgefährdung nahe kommt. Wer das übersteht bleibt vernarbt und verhärtet zurück, lebt misstrauisch und erstarrt. So war ihm, Jahrzehnte später, ein äußeres Exil nach dem Beispiel seines niederösterreichischen Schriftstellerkollegen Theodor Kramer unzugänglich, er nahm es sogar auf sich, eine jüdische Frau durch die lebensbedrohlichen Hinterhalte der NS-Zeit zu schleusen.

In der Literatur finden sich Berichte von Zeitgenossen über Wilhelm Szabo, die seine innere Emigration bildhaft beschreiben, so bei Stefanie Krammer (2019), die Interviews mit Daniela Strigl und Wolfgang Katzenschlager, einem Schüler Szabos in Weitra und Sohn seines Nachfolgers als Schuldirektor in Weitra, veröffentlicht hat. Beide berichten vom freundlichen, aber unnahbaren Direktor, bzw. Professor Szabo, dem zwischen die Welten Land und Stadt geratenen Dichter.

Szabo war schon als Kind ein Unzufriedener. Vater, Mutter und Großmutter trafen seine Schuldzuweisungen, aber auch viele andere Personen seiner seiner Umgebung, besonders die Ziehmutter Theresia Dörr und ihren dritten Ehemann Karl Röhrl. Er konnte nicht erkennen, dass ihm eine verbürokratisierte Heimerziehung erspart wurde und dass sich Theresia Dörr aufopfernd treu und unter Einsatz aller ihr möglichen Kräfte um ihre Pflegekinder bemühte. Dass sie seine hochstrebenden Bildungswünsche nicht unterstützten konnte, da sie, die ledig Geborene, selbst eine Aus-dem-Nest-Gefallene war, die tagtäglich ums Überleben kämpfen musste, die schwerste Bauernarbeit verrichten musste um abends mit einem Laib Brot heim zu ihren Pflegekindern gehen zu können, konnte er nicht würdigen. Es reicht nicht im Abstand vieler Jahre ein Abbild von ihr in ein Gedicht zu flechten, denn er hat es nicht für sie, sondern für sich geschrieben, als Deckmantel für sein Problem, anderen wirklich empathisch entgegentreten zu können. Viel zu lange hat er Lichtenau gemieden. Ob er Theresia Dörr/Röhrl jemals wieder gesehen hat?

In seinem ganzen Leben hat sich Szabo in dieser Opferrolle gesehen  und sie literarisch überhöht. Er bezeichnet sich als Findelknabe, spricht von Elternlosigkeit und Herumgestoßenwerden und war doch weder Findelkind, noch Waise und wurde durchgehend in einer elternähnlichen, stabilen Pflegesituation von einer zuverlässigen, aufopfernden Ziehmutter erzogen.

Auf einem Feld des Lebens jedoch hat Szabo Herzblut ausgesät. Es ist das weite Feld der Literatur, vor allem der Lyrik. Sie hat ihn schon gefesselt in alten Schulbücher, die er auf dem Dachboden der Dorfschule vorgefunden hat. Näher kam er ihr in seiner St. Pöltener Zeit im Lehrerseminar, auffallend dabei, dass auch andere im Seminar dieser Anziehungskraft erlagen. So bleibt doch zu vermuten, dass im Seminar viel Wert auf Literarisches gelegt, dass vielleicht sogar ein Deutschlehrer des Seminars sich besonders intensiv um die jungen Zöglinge bemüht hat um ihnen den Keim literarischen Interesses einzupflanzen. Zu denken wäre hier u.a. an Heinrich Güttenberger, Lehrer und späterer Landesschulinspektor an den Lehrerbildungsanstalten, der 1932 einen langen Artikel in der Zeitschrift Das Waldviertel über die Dichterfreunde Franke und Szabo veröffentlicht hat.

Diese verabredeten sich mit Postkarten und trafen sich am Wochenende  um die Waldviertler Einsamkeit zu durchbrechen und sich über ihre Lehrerarbeit und Literarisches auszutauschen. So schreibt Franke am 31.1.1923 nach Gopprechts an Szabo:

Lieber Kamerad!

Erwarte dich also bestimmt für Samstag und bin beim Zug. Freilich ists eine dumme Sache, dass Gehalt nicht eintrifft erst 9.10. l.m. zur Auszahlung kommt.  …………………… Also bestimmt kommen, und es wird schön sein, wie am 28.  Denn es war sehr schön, Kamerad. Ich hoffe wir werden gute Freunde werden und bleiben. Es soll an mir nicht fehlen das verspreche ich.   Recht herzliche Grüße

Ich werde es nie vergessen, daß ich in einer Keusche aufwuchs und daß meine bäurische Ziehmutter sich eines Niemandskinds annahm. Mein Herz gehört den Armen und Namenlosen.

Nach den ersten Veröffentlichungen Anfang der 20er Jahre werden die Zeiten wirtschaftlich so schlecht, dass an weitere Verlagsprojekte nicht mehr zu denken ist. Ein von Szabo vorbereiteter zweiter Lyrikband muss ungedruckt bleiben und Szabo ist wieder nur Lehrer, enttäuscht, frustriert, mit seinem Schicksal hadernd. Er musste in Kammern hausen, ohne Spiegel, ohne Kasten und lebte unterm Dach von Stroh. Die Stube starrt und der rauhe Bauer wird zum Kerkerwart und wie ein schwerst Depressiver verläßt er nicht die Kammer, die Tür bleib zugetan.

 Und wieder muss es einen Schuldigen geben, es ist das fremde Dorf,  es sind die dunklen Dörfer, denn er muss sich fühlen wie die Erde unterm Pflug und wie das Korn, das man mit Flegeln schlug. Szabo leidet und sein Leid fließt in seine Gedichte, echt und unverfälscht. Und als es um 1930 kurz wirtschaftlich besser erscheint gibt es einen lyrischen Frühling mit neuen Büchern in denen auch Szabos Lyrik zu lesen ist. Die Gedichte werden gut aufgenommen, endlich einer, der mit der verlogenen Idylle aufräumt und die Heimatverklärung demaskiert. Antiheimatliteratur, ein neues Genre ist geboren. Doch es sind keine Anti-Heimat-Gedichte, sondern es sind Anti-Szabo-Gedichte, Gedichte gegen den Ewig-Unzufriedenen und den Jede-Schuld-bei-anderen-Suchenden.

Der Mitte der 30er Jahre erreichte literarische Erfolg und ein beruflicher Aufstieg besänftigen, das Leben hellt auf, die Möglichkeiten und Hoffnungen weiten sich. Doch die nächste Krise ist schon seit Jahren am Anwachsen und kommt durch die Heirat mit einer Jüdin zum Ausbruch. Szabo wird entlassen, verliert seine wirtschaftliche Basis und muss, da ihm Emigration nicht möglich ist, im eigenen Land eine schützendes Nest suchen. Mit Hilfe des Stiftes Zwettl finden seine Frau und er tief in der Einsamkeit des Waldviertels Zufluch und überleben den NS-Terror. Es ist sicher die Stütze der Zweisamkeit, die seine Psyche stärkt und ihn stabil in die Nachkriegszeit bringt. Wiedergutmachung für die ehedem Verfehmten verschafft einen schnellen Aufstieg, endlich ist Szabo dort, wo er sich immer wähnte, ist als Schuldirektor unter den Honoratioren der Stadt, später Schulrat und bald auch Vorstandsmitglied im Österreichischen PEN-Zentrum. Doch seine Lyrik stieg nicht mit, sein Ruhm lebt von Erinnerung, es sind die alten, die frühen Gedichte, die immer und immer wieder gedruckt werden. Das Neue ist wenig und kann an die frühen, vom Leid gestalteten Gedichte nicht anknüpfen.

Szabo ist jetzt ein Ausgedingler, sein literarisches Altenteil ist kärglich, er ist geduldet, nicht gewünscht, er ist Verwalter, nicht mehr Schöpfer. Doch er ist standhaft, steht seinen Mann als Vorsitzender des Neulengbacher Literaturkreises Podium, bis ihm 1986 der Tod den Abschied bereitet. Uns bleiben seine Gedichte.

Bibliografie_____________________________________________________________________________________________

Verklärte Stunden
Ferd. Wurst Lilienfeld 1922 68 S.
Es erschienen eventuell zwei Auflagen

Das fremde Dorf
Gedichte
Krystall Wien 1933 49 S.

Im Dunkel der Dörfer
Karl Alber München 1940 49 S.

Das Unbefehligte
Gedichte
Karl Alber München 1947 49 S.

Herz in der Kelter
Gedichte
Otto Müller Salzburg 1954 104 S.

Der große Schelm
Stiasny Graz 1960 127 S.
Stiasny-Bücherei Bd 73

Landnacht
Neue Perspektiven
Verlag für Jugend und Volk Wien und München 1965 49 S.

Schnee der vergangenen Winter
Ausgewählt und eingeleitet von Johann Gunert
Stiasny Graz 1966 128 S.
Stiasny-Bücherei Bd. 167

Sergej Jessenin
Trauer der Felder
Gedichte Nachdichtungen von Wilhelm Szabo
mit 6 Zeichnungen von Paul Zwirchmayer
Neugebauer Press Bad Goisern 1970 78 S.

Schallgrenze
1974

Gedichte 1930-1980 Lob des Dunkels
Verlag Niederösterreichisches Pressehaus St. Pölten-Wien 1981 272 S.

Im Zwielicht der Kindheit
1986

Und schwärzer schatten die Wälder
Gedichte
Verl. Publ. P No 1 Weitra 2001 158 S.
Bibliothek der Provinz

Dorn im Himbeerschlag
Zwielicht der Kindheit
herausgegeben von Richard Pils
Verlag publication PN°1 Weitra o.J. [2001] 154 S.

Szabo Wilhelm – Sekundärliteratur

Heinrich Güttenberger (1932)
Zwei Lyriker aus dem Waldviertel. Das Freundespaar Wilhelm Franke und Wilhelm Szabo.
Das Waldviertel 5.Jahrg. Folge 4 1932 S. 62-69

Stefanie Krammer (2019)
Wilhelm Szabo: Der desillusionierte Lyriker und warum er kein negativer Heimatdichter war – unter besonderer Betrachtung der Korrespondenz mit Otto Basil
Diplomarbeit Universität Wien 2019 87 S.

Schirhuber, Erich; Unterrader, Sylvia; Teissl, Christian; Vyoral, Hannes (2011)
Die Quadratur des Literaturkreises. Dokumentation 40 Jahre Podium
=Podium 159/160

Joseph McVeigh (1984)
Das Fortleben der „Ostmark“-Literatur in der zweiten Republik: Zur Identität der österreichischen Literatur zwischen 1945 und 1965
Modern Austrian Literature Vol. 17, Nr. ¾ (1984) S. 93-112

Joseph Strelka (1978)
Zufallslese
Zu österreichischer Lyrik der Gegenwart
Modern Austian Literature Vol. 11, Nr. 1 (1978) S. 1-20

Jörg Thunecke (1996)
Negative Heimatlyrik? Zur Dichtung von Wilhelm Szabo
Modern Austrian Literature, Vol. 29, No. 3/4, Special „Heimat“ Issue (1996), pp. 187-202

Jörg Thunecke (1999)
Zu einem wiederentdeckten Lyrikband Wilhelm Szabos
Sichtungen 2 (1999), S. 61-63
Auch in: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/thunecke-j-2a.html ([aktuelles Datum]).

Jörg Thunecke (2000)
Österreich aus der Sicht der inneren und äußeren Emigration. Wilhelm Szabo und Theodor Kramer:
Ein Vergleich
in: Herbert Staud / Jörg Thunecke (Hg.):
Theodor Kramer. Chronist seiner Zeit
Wien/Klagenfurt Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft/Drava Verlag 2000 S. 171-186

Literaturkreis Schloss Neulengbach Podium (2000)
Wilhelm Stabo Podium Porträr Nr. 4
Wien 2000 64 S.

Johann Holzner (2004)
Eigenständigkeit um den Preis der Einsamkeit: Über Wilhelm Szabo
Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv Jahrgang 23 (2004), S. 37-45

Antonia Zembaty (2013)
Wilhelm Szabo als Übersetzer von Sergej Esenin
Diplomarbeit Universität Wien 2013 149 S.

Daniela Strigl (2018)
Fremdheiten‹. Österreichische Lyrik der Zwischenkriegszeit:
Jakob Haringer, Theodor Kramer, Wilhelm Szabo, Guido Zernatto
https://litkult1920er.aau.at/themenfelder/fremdheiten-oesterreichische-lyrik-der- zwischenkriegszeit/
Erstdruck in:
Primus-Heinz Kucher (Hg.): Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre. Vorschläge zu  einem transdisziplinären Epochenprofil. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 179-194


Beteiligungen an Anthologien und sonstigen Sammelbänden

Michael Pfliegler
Das jüngste Österreich Ein Almanach
Verlag der „Neuen Jugend“ Wien 1922 89 S.

Sacher, Friedrich
Anthologie junger Lyrik aus Österreich.
Mit einem Geleitwort v. Richard von Schaukal.
Krystall Wien 1930

Friedrich Sacher
Die Gruppe. Neun Lyriker aus Österreich.
Krystall Wien 1932 154 S.

Friedrich Sacher
Die Gruppe. Zwölf Lyriker aus Österreich.
Krystall Wien 1935 126 S.

Otto Brandt-Hirschmann
Der ewige Kreis. Eine Anthologie neuer österreichischer Lyrik.
Deutscher Verlag für Jugend und Volk Wien Leipzig 1935 191 S.

Josef Pfandler
Lyrik der Gegenwart (Dichtungen österreichischer Lehrer)
Augartenverlag Wien 1935

Josef Pfandler
Vom Expressionismus zur neuen Klassik. Deutsche Lyrik aus Österreich.
Augartenverlag Stephan Szabo Wien Leipzig 1936 256 S.

Hermann Reisinger
Das Waldviertel im Gedicht. Ausgewählt von der Schriftleitung der „Waldviertler Heimat“. [Redigiert u. mit einer Einleitung versehen v. Wilhelm Szabo (anonym).]
St. Pöltner Zeitungs-Verlags-Ges. m. b. H. St. Pölten 1942
(= Niederdonau, Ahnengau des Führers. Schriftenreihe für Heimat und Volk 75/76).

Wulf Stratowa
Österreichische Lyrik aus neun Jahrhunderten
Paul Neff Wien 1948 407 S.

Hansjörg Graf
Ahnung und Gestalt. Salzburger Almanach der Georg Trakl-Preisträger.
Otto Müller Salzburg 1955 104 S.

Manfred Schlösser
An den Wind geschrieben.
Lyrik der Freiheit. Gedichte der Jahre 1933-1945
Agora Darmstadt 1960 369 S.

Heinz Piontek
Neue deutsche Erzählgedichte
Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1964 352 S.

Heinz Piontek
Deutsche Gedichte seit 1960 – Eine Anthologie von Heinz Piontek
Philipp Reclam Stuttgart 1972 294 S.
Universal Bibliothek Nr. 9401-4

Eugen Thurnher
Dichtung aus Österreich. Anthologie in drei Bänden und einem Ergänzungsband. Versepik und Lyrik. Teilband 2: Lyrik
ÖBV Wien 1976

Senta Ziegler
Ort der Handlung Niederösterreich.
(m. Erzählungen von Imma Bodmershof, Fritz Habeck, Lotte Ingrisch, Hans Weigel, Wilhelm Szabo)
Niederösterreichisches Pressehaus St. Pölten 1981

Georg Bydlinski
Der Wünschelbaum
Mit farbigen Illustrationen von Agnès Rosenstiehl
Herder Wien Freiburg Basel 1984 172 S.

1940 Im Dunkel der Dörfer, Einband im Stil der Insel-Bücherei und Titelblatt

Kleine Streiflichter - Interessantes und Überflüssiges

Imma von Bodmershof 1969

Szabo hat in seiner Autibiografie viel über sein Leiden und dessen Verursacher geschrieben, wenig jedoch über Lichtenau, das Dorf seiner Jugend. Es war ein kleines Dorf, Bauern und Häusler, überragt von einem wehrhaften, burgartigen Schloss. Seit 1812 war es im Besitz der Familie von Ehrenfels. Als der kleine Wilhelm 1901 in Lichtenau einzog gehörte der Schlossbesitz dem Freiherrn Christian von Ehrenfels, der in Wien Philosophie studiert hatte, spätert seinem akademischen Lehrer nach Graz gefolgt war und ab 1896 an der Universität Prag Philosophie gelehrt hat. Nur in den Sommermonaten lebte die Familie von Ehrenfels auf Schloss Lichtenau, der Herr Baron, seine Frau Emma und seine 1895 geborene Tochter, die ebenfalls Emma hieß. 1901 war noch ein Sohn geboren worden. Die Familie war recht exzentrisch, Christian von Ehrenfels veröffentlichte seine Gedanken auf den Gebieten der Psychologie und der Ethik, aber auch über die Mathematik der Primzahlen und sogar über die Sexualmoral, was ihm, da er Polygamie befürwortete, ziemliches Unverständnis einbrachte. Der Sohn Rolf hat wohl einiges dieser Exzentrik von ihm geerbt, ist er doch später zum Islam übergetreten und 1938 nach Indien ausgewandert.  Dessen Tochter Leela hat im Herbst 2020 ,als letzte Bewohnerin der Familie Ehrenfels, Schloss und Gut Lichtenau an einen österreichischen Unternehmer verkauft.

Rolfs Schwester Emma, die sich später Imma nannte, lebte im Dunstkreis ihres extentrischen Vater in Prag, studierte dort und in München Kunstgeschichte und Philosophie, fand Anschluss an literarische Kreise. Sie verlobte sich 1913 mit Norbert von Hellingrath, der im Haus seiner Tante, der Verlegergattin Elsa Bruckmann, Verbindungen zur Elite der deutschen Schriftsteller hatte, u.a. zu Stefan  George und Rainer Maria Rilke, zu denen damit auch Imma von Ehrenfels Zugang fand. Da Hellingrath 1916 im Weltkrieg fiel kehrte verlagerte sich Immas Lebenszentrum wieder in ohre oberösterreichissche Heirat. Hier heiratete sie 1926 Wilhelm von Bodmershof. Zusammen mit ihm übernahm sie das 3 km von Lichtenau entfernte marode Familienschloss und -gut Rastbach, das sie gemeinsam wieder aufbauten und auf dem sie 1982 auch verstarb. Ab den 30er Jahren trat sie auch als Schriftstellerin hervor. Hauptsächlich veröffentlichte sie der Tradition verpflichtete und der Heimat verbundene Romane, überregional bekannt wurde sie jedoch durch  damals in Europa wenig verbreitete japanische Haikuverse.

Damit schließt sich auch der Kreis zu Wilhelm Szabo, der in der frühen Nachkriegszeit, zusammen mit Imma von Bodmershof einem recht aktiv verbundenen Waldviertler Schriftstellerkreis angehörte, dessen Treffen zumeist in Zwettl stattfanden.

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