Sebastian Sailer als theologischer Schriftsteller
1746
Wie alles anfing, Sailers Weg zur ersten Veröffentlichung - Die Identitätsverschmelzung des Tiberius
Sailer war schon als Jugendlicher in die Marchtaler Klosterschule gekommen. Zur danach folgenden Priesterausbildung wurden die Marchtaler Zöglinge bislang zu den Jesuiten der Dillinger Universität geschickt, Sailer war einer der ersten, der seine Ausbildung ganz in Marchtal erhielt. Er war damit dem Marchtaler Lehrbetrieb noch enger verbunden und es war naheliegend ihn zunächst auch als Lehrer einzusetzen. Wie in allen schwäbischen Prämonstratenserklöstern, bestand auch in Marchtal eine ausgeprägte Fest- und Feierkultur. Zu vielen Anlässen wurde gedichtet, gesungen und Theater gespielt und Sailer war darauf auch bestens vorbereitet, denn er ist als Kind in Weißenhorn mit zwei Großvätern aufgewachsen, in deren Gasthöfen Geselligkeit, Gespiel und Gesang eine Heimat hatte, insbesondere sein mütterlicher Großvater, der Sonnenwirt Jeremias Kuen, ein aus Tirol zugewanderter Musikant, dürfte prägend für Sailers Musikalität und Schlagfertigkeit gewirkt haben. Die kurzen Texte dieser Gratulationen und Lobpreisungen sind als Alltags- und Gebrauchsliteratur leider nicht erhalten, mit einer Ausnahme, der Schwäbischen Schöpfung“ die er 1743 bei der Geburtstagsfeier des Schussenrieder Abtes selbst vorgetragen hat. So verwundert es nicht, dass ihm im Dienste des Klosters auch zu anderen Anlässen dichterische Auftragsarbeiten angetragen wurden.
Klöster waren zu allen Zeiten und sind es noch heute, neben aller Spiritualität, wirtschaftliche Unternehmen. Zu Sailers Zeiten mit ihrer Reichsunmittelbarkeit sogar unabhängige Kleinstaaten mit eigenen Volkswirtschaften. Die Klosterführung musste Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht halten, möglichst Überschüsse erzielen, die für Unterhalt und aussichtsreiche Zukunftsprojekte investiert werden konnten. Um die Ausgaben brauchte man sich kaum zu kümmern, die kamen von allein auf das Kloster zu, die Einnahmen kamen aus Erträgen der landwirtschaftlichen Eigenbetriebe, aus Zinsen und Abgaben grundherrlicher Rechte, aber auch aus den kirchlichen Verrichtungen, egal ob Taufe, Trauung oder Beerdigung, aus allen flossen dem Kloster Gebühren zu. Eine wichtige Einnahmemöglichkeit ergab sich aus dem Bedürfnis der Bevölkerung der umliegenden Dörfer nach Sicherheit und geistlichem Schutz, aus dem sich mancherorts bedeutende und einträgliche Wallfahrten entwickelten. Aber dazu bedarf es in der Regel heilger Äbte, schwerstleidender Märtyrer oder bedeutender Reliquien wie Nägel und Späne vom Kreuz Christi, Dinge also die rar sind und kaum jemals auf normalem Weg erworben werden konnten.
Etwa 100 Jahre vor Sailers Marchtaler Zeit war ganz Deutschland und damit natürlich auch Marchtal und seine schwäbischen Klostergeschwister schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, prächtige Bauten waren beschädigt, Untertanen waren verelendet, getötet oder verhungert und es dauerte lange bis sich die wirtschaftlichen Zustände stabilisiert hatten und der Neuaufbau einer Wallfahrtstätte in Marchtal begonnen werden konnte.
Der Zugang zu Märtyrern war durch einen glücklichen Zufall 1578 wesentlich erleichtert worden, als man bei Bauarbeiten im Bereich der Via Salaria in Rom zwei der frühchristlichen unterirdischen Bestattungsanlagen Roms, die Katakomben, wieder fand. Damit waren tausende, meist knöcherne Leichnamsreste zugänglich und wurden einer kirchenrechtlich eigentlich verbotenen wirtschaftlichen Verwertung zugeführt. Die Nachfrage in ganz Europa war enorm, das Übertragungsverfahren aufwendig und teuer, dass im kriegerischen 17. Jahrhundert relativ wenige Märtyrer ins Schwabenland kamen. Marchtal hatte 1625 nur einen Schädel des Märtyrers Tiberius erhalten, als Geschenk eines Konstanzer Weihbischofs, der ihn von einer Romreise mitgebracht hatte. Die öffentliche Zur-Schau-Stellung wurde erst nach dem Dreißigjährigen Krieg ab 1664 begonnen. 1665 wurde dafür südlich der Klosterkirche eine eigene Kapelle für die Tiberiusverehrung gebaut. Der Zustrom der Tiberiuspilger wuchs, die Klostereinnahmen ebenfalls. 1707 gab es eine kurze Beeinträchtigung, da das massive Silberreliquiar des Schädels zur Schuldentilgung verkauft werden musste. Doch schon 10 Jahre später diese Durststrecke überwunden, mit neuen Silberreliquiaren versehen, wurde die Tiberiuskapelle wieder in einen repräsentativeb Zustand versetzt. Ein vollständiger päpstlicher Ablass von allen Sündenstrafen für die betenden Tiberiuspilger unterstützte die Zunahme der Wallfahrer.
Zehn Jahre später wurde die Tiberiuskapelle aufgelöst und die Reliquien in eine Seitenkapelle der Klosterkirche verlegt, wo sie sich noch heute befinden.
Heute steht die Verehrung des hl. Tiberius ganz im Vordergrund der Pilgerverehrung, dies war aber nicht immer so. Neben der Schädelreliquie des Tiberius waren auch zwei weitere Schädel, die zwei Jungfrauen aus dem Gefolge der hl. Ursula zugeschrieben werden, nach Marchtal gekommen. Ab dem letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts hatte Marchtal seine Bemühungen um Erhalt weiterer Reliquien aus den Katakomben Roms mit Erfolg wieder verstärkt. Das Kloster erhielt aus Rom mehrere Katakombenheilige, 1700 die hl. Alexandra, 1701 die Märtyrer Ursatius und Pius, 1709 die hl. Theodora.,zudem 1723 eine Hl.-Kreuz-Reliquie. Die Rangfolge unter den Heiligen, zugewiesen von den Pilgern, aber auch von den Mönchen, wechselte im Lauf der Jahre mehrfach, was die Ausbildung eines überragenden „Zugpferdes“ unter den Heiligen behinderte. Um die Stellung des hl. Tiberius zu festigen, beschloss die Klosterführung eine Lebensgeschichte von ihm zu veröffentlichen, um ihn und seinen angeblichen Lebensweg tiefer in die Herzen der Bevölkerung zu versenken. Als Autor für diese Aufgabe wurde wahrscheinlich Sebastian Sailer ausgesucht, der ein Jahr zuvor mit seiner Schwäbischen Schöpfung“ eine beeindruckende Vorführung seiner literarischen Fähigkeiten geliefert hatte.
1746 erschien diese Lebensbeschreibung beim Augsburger Verlag von Mathäus Rieger und Söhne, allerdings ohne Angabe des Autors. Obwohl viel dafür spricht, dass der Text von Sebastian Sailer stammt, kann seine Urheberschaft nicht mit letzter Sicherheit behauptet werden. Die Editionsgeschichte dieses Titels ist zudem etwas eigenartig. Man darf annehmen, dass das Kloster großes Interesse an der Verbreitung der Geschichte hatte, diese förderte und unterstützte, womit eine baldige Neuauflage wahrscheinlich wäre. Es dauerte aber 17 Jahre bis eine zweite Auflage erschien, diese im Text mehr als verdoppelt, obwohl die unbearbeitet nachgedruckte Tiberiusgeschichte nur 60 Seiten einnimmt. Die enorme Vermehrung des Umfangs verdankt das Buch neuen Beiträgen, so 24 geistlichen Lehren zum Leben des hl. Tiberius, die allein 228 von insgesamt 328 Seiten einnehmen. Die Martergeschichte des Tiberius tritt in der neuen Auflage weit in den Hintergrund. 1768 erscheint noch eine dritte Auflage, die im Vergleich zur zweiten Auflage nur minimale Veränderungen im Vorwort aufweist. Bis heute sind keine weiteren Auflagen mehr erschienen, obwohl der Tiberiuskult in Obermarchtal bis heute in voller Blüte steht.
Ein kleiner sprachwissenschaftlicher Ausflug als Fehde unter Patern im sogenannten barocken Sprachenstreit
Die Entwicklung der menschlichen Sprache war eine großartige Leistung der Evolution. Die dazu korrespondierende Entwicklung der Schrift, mir deren Hilfe Sprache archiviert oder auch über weite Strecken transportiert werden konnte, war nicht weniger grandios. Wichtig, vor allem für die Schrift, war eine Standardisierung, denn nur so lonnten sich nicht nur Menschen einer kleinen sozialen Einheit verständigen, sondern ganz Völker. Solche Standardisierungsvorgänge gibt es bis in unsere Zeit und wird es wohl immer geben. In Deutschland wurde die Ausbildung einer einheitlichen Schreibsprache etwa um 1775 erreicht. Schon lange zuvor gab es Gruppen, die normbildende Bestrebungen verfolgten, z.B. die Ausbildung von Kanzleisprachen oder das sogenannte Lutherdeutsch der Bibelübersetzung Luthers. Die Entwicklung in Deutschland strebte als Spätfolge der Reformation entsprechend dem Dualismus der katholischen und reformierten Kirchen, dem Nahestehen des geografischen Südens und Westens gegen den Osten und Norden, der Feindschaft Preußens und dem habsburgischem Österreich auf einen Machtkampf der beiden Lager hinaus.
Das sächsisch-meißnerische Lager des Nordostens war durch die intensive Vorarbeit seiner Autoren, insbesondere von Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) deutlich besser aufgestellt. Als es in den 1760er Jahren als Folge der durch die Aufklärung angestoßenen Entwicklungen eine allgemeine Schulpflicht einzuführen, war auch eine einheitliche Normierung der Schreibsprache unumgänglich. Maria Theresia und ihr Sohn Joseph II. mussten sich den Gottschedschen Vorschlägen beugen.
Augustin Dornblüth, ein Benediktiner aus dem Kloster Gengenbach stand auf der Seite der Oberdeutschen Fraktion und veröffentlichte 1755 seine Schrift Observationes oder Gründliche Anmerckungen über die Art und Weise eine gute Übersetzung besonders in die teutsche Sprach zu machen, in der u.a. Sailers Predigt über den Schussenrieder hl. Vincentius von 1751 komplett verriss. Der stark getroffene Marchtaler antwortete 1756 mit Vier Sendschreiben wider Hrn. P. Augustin Dornblüth. Sailers Antwort erschien unter dem anagrammatischen Pseudonym Benastasii Liares, aber nicht anonym, denn er ging davon aus, dass er von der beteiligten Öffentlichkeit ohne Zweifel erkannt wird. Der Zwist war völlig überflüssig, da beide auf der gleichen Seite standen.
1762
Sailers schriftstellerische Tätigkeit weitet sich 1762 erheblich aus. Er veröffentlicht in diesem Jahr insgesamt fünf verschiedene Titel. Ermöglicht hat ihm dies wohl die Ruhe und Abgeschiedenheit in Dieterskirch, wo er seit 1756, weitgehend von den klösterlichen Aufgaben entbunden, als Pfarrverweser und Ökonom die Geschicke der Gemeinde leitet. Vielleicht empfängt er auch Anregungen und Ansporn durch andere Schriftstellerkollegen, die er seit 1761 im Musenhof des Grafen Stadion auf Schloss Warthausen trifft, unter ihnen Christoph Martin Wieland und Sophie von La Roche.
1764
Der erste Bestseller - KEMPENSIS MARIANUS oder die Nachfolge Mariä
Das Jahr 1764 bringt eine grundlegende Wende in Sailers Schriftstellerleben. Seine Bedeutung und sein Bekanntheitsgrad steigern sich extrem. Zwei seiner bekanntesten Bücher werden in diesem Jahr veröffentlicht, KEMPENSIS MARIANUS und Marianisches Orakel. Mit seinem Buch zur Nachfolge Mariens gelingt Sailer ein Geniestreich, indem er das im frühen fünfzehnten Jahrhundert entstandene Werk des Augustinermönchen Thomas von Kempen, De Imitatio Christi, als Vorbild nimmt, aber nicht um es mit Inhalten mittelalterlicher christlicher Mystik zu füllen, sondern ganz erfüllt vom Geist der Zeit, der barocken Marienverehrung, eine Anweisung zur Nachfolge Mariens zu schaffen. der zu erhoffende Erfolg bleibt zunächst aus. Sailer hat es beim Günzburger Verleger Wagegg veröffentlicht, doch der ist mehr Drucker, denn Verleger und erst seit den frühen 1750er Jahren in der markgräflich burgauischen Residenzstadt an der Donau tätig. Auch die Veröffentlichung in lateinischer Sprache dürfte der Verbreitung nicht dienlich gewesen sein und erklärt zusätzlich die heutige Seltenheit dieser Ausgabe.
Doch 1768, Sailer ist inzwischen ein bekannter Autor in einem der führenden Augsburger Verlage geworden, erscheint es stark erweitert und mit einem schückenden Kupferstichfrontspiz bei Matthäus Rieger und wird zu einem großen Verkaufserfolg. Diese neue Ausgabe, immer noch lateinisch geschrieben, dürfte zumindest in der Priesterschaft gut verbreitet gewesen sein. Doch Rieger weiß um die verlegerischen Notwendigkeiten und so gibt es schon im Folgejahr 1769 eine deutsche Übersetzung Der Übersetzer bleibt anonym und signiert sein Vorwort nur mit den Initialen H.J.F. Einer zweiten Auflage bedarf es 1772, die vierte und fünfte erscheinen 1787, bzw. 1797. Doch damit ist dem Leben des Buches kein Ende gesetzt. Es erscheint als einziges theologisches Werk Sailers in mehreren Ausgaben und Bearbeitungen auch im 19. und 20. Jahrhundert. Die neueste nachgewiesene Ausgabe ist eine kroatische Übersetzung aus dem Jahr 1995. Weitere Übersetzungen der Nachfolge Mariä Sailers gibt es ins Französische, Tschechische und Slowenische.
Kleine Auswahl von späteren Auflagen, Nachdrucken und Bearbeitungen
Sailers größter Erfolg - Das Marianische Orakel
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