250 Jahre Mundartliteratur in Bayerisch-Schwaben - Eine Erfolgsgeschichte

Mit ihm

       fing

       alles

               an

Und da standen wir 2023 zusammen vor dem Portal von Schloss Edelstetten nach der Vorstellung der umfassenden Mundartanthologie Butzagägaler.

Sebastian Sailer und der Beginn der Mundartliteratur in Deutschland

Titelblatt der Erstausgabe von Sebastian Sailers erfogreichstem Mundartbuch

Mundartliteratur im heutigen Siinn gibt es seit etwa 250 Jahren, wir kommen bei einer historischen Betrachtung also in die Zeit um 1770. Das überrascht, ist denn Mundart nicht die erste, älteste, weit verbreitetste und natürlichste Art des Menschen sich verbal auszudrücken. Es ist ein bürokratisches Gebilde dem wir dies verdanken, der Schrift, Hoch- oder Standardsprache. Geschrieben und gedruckt wurde natürlich schon lange vor 1770, zumeist auch in einer gehobenen Sprache, doch gab es damals keine allgemein gültige, definierte Schriftsprache im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die einheitliche Schriftsprache wurde erst infolge der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, dem Lieblingsgegenstand aller aufklärerischen Bestrebungen dieser Zeit, als notwendig erachtet und eingeführt. Dieser Vorgang fand in den unzähligen Einzelstaaten des Reiches zu verschiedenen Zeitpunkten statt, verlief in mehreren Etappen  und zog sich über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahrzehnten hin. Für die Geburt der Mundartliteratur lässt sich also kein exakter Geburtstag angeben. Notwendig für die Zeugung war die Veröffentlichung eines Mundarttextes, der bewusst und allgemein erkennbar den Unterschied zur offiziellen Schriftsprache als Bestandteil der Veröffentlichung vorwies. Gesichert ist nun, dass der 1714 in Weißenhorn im heutigen Bayerisch-Schwaben geborene Johann Valentin Sailer, der später als Pater Sebastian Sailer im Kloster Obermarchtal lebte schon in den 1770er Jahren Mundarttexte drucken ließ. Diese sind jedoch bibliografisch schwer fassbar. Unzweifelhaft nachweisbar durch mehrere erhaltene Exemplare ist die Veröffentlichung eines Mundarttextes von ihm 1783, denn in diesem Jahr ist der Text seines 1743 erstmals aufgeführten Singspiels, heute meist „Die Schöpfung“ betitelt, als Buch gedruckt worden.

Es erschien ohne Angabe des Autors, Sailer war zudem bereits 1777 verstorben, ohne Verlagsangabe und ohne Druckort. Das Buch hat Sailer später den Titel „Vater der schwäbischen Mundartliteratur“ eingebracht. Er war damit darüber hinaus jedoch der erste Mundartschriftsteller nicht nur Schwabens, sondern von Deutschland insgesamt..

Eigenhändiger Eintrag von Sebastian Sailer in einem Rechnungsbuch der Pfarrei Dieterskirch

!784 erschien eine Bearbeitung in die österreichische Bauernsprache, später noch weitere Ausgaben so in Bad Kreuznach und in Ulm. Die Texte waren lückenhaft und weit vom Original Sailers entfernt. Erst 1819 nahm sich Sixt Bachmann, einer der letzten noch lebenden Mitbrüder des ehemaligen Marchtaler Konvents, der Werke Sailers an und stellte aus authentischen Quellen eine Gesamtausgabe der Mundartschriften Sailers zusammen. Sie erschien, gedruckt in der Thurn- und Taxischen Buchdruckerey, bei Dionis Kuen in Bad Buchau. Damit lag 43 Jahre nach Sailers Tod die erste umfassende Ausgabe von Sailers Mundartschriften in einem zuverlässigen Text vor, die bis heute Grundlage aller weiteren Ausgaben war.

Sehr seltene Kreuznacher Ausgabe der "Schöpfung"
Ausgabe ohne Verlag und Druckort, wohl in Ulm gedruckt
Erste Gesamtausgabe der Mundartschriften Sebastian Sailers

Johann Peter Hebel und seine Allemannischen Gedichte

Titelblatt der Erstausgabe von Johann Peter Hebels "Allemannische Gedichte"

Die vielen gedruckten Ausgaben der Schöpfung zeigen, dass Sailers Mundartschriften auf eine große Nachfrage stießen. Der Bedarf dafür war offensichtlich gegeben, so ist es um so verwunderlicher, dass er damit zwei Jahrzehnte allein auf weiter Flur stand, denn erst 1803 hat auch der Badische Theologe und spätere Prälat der lutherischen Landeskirche Badens, Johann Peter Hebel, ein Mundartbuch herausgebracht. Da es der erste profane Mundarttext war,mit neu geschriebenen landschaftsbezogenen Gedichten, gilt es bis heute fälschlicherweise, vielen als Beginn der deutschen Mundartliteratur. Diese Allemannische Gedichte erschienen 1803 in Carlsruhe in  Macklots Hofbuchhandlung anonym, nur mit dem Autorenmonogramm JPH bezeichnet. Das Buch wurde begeistert aufgenommen und ist bis heute weit verbreitet, doch die Mundartliteratur stand trotz dieses Bestsellers weiterhin im Schatten des Verlagsgeschäftes.

Johann Peter Hebel Pastell von Philipp Jakob Becker 1807

Die ersten Mundartautoren im schwäbischen Württemberg

Im württembergischen Teil Schwabens gab es in den folgenden Jahrzehnten zwar immer wieder lokale Mundartautoren, die auch in größerem Umkreis Beachtung fanden, so Joseph Epple in Schwäbisch Gmünd (Vermischte Gedichte in schwäbischer Mundart und in reindeutscher Sprache 1821), Gottlieb Friedrich Wagner in Maichingen bei Böblingen (Die Schulmeisterswahl zu Blindheim, vor 1824), Heinrich Hoser in Heilbronn (Lieder in schwäbischer Volkssprache 1823), Heinrich Wagner in Stuttgart (Ergüsse meiner Launen von Wergan 1833), Johannes Nefflen in Pleidelsheim (Vetter aus Schwaben 1837) und Klemens Specht in Ellwangen (Gedichte und Erzählungen in schwäbischer Mundart 1840),  ihre überregionale Wirkung blieb jedoch immer begrenzt. Der bekannteste unter ihnen war der auch als Bürgermeister und Landtagsabgeordneter politisch sehr aktive Johannes Nefflen.

Die ersten Nachfolger Sebastian Sailers in Bayerisch-Schwaben

3. Auflage der Gedichte von Johannes Müller 1840

Der erste den wir kennen ist Johannes Müller in Memmingen, der damit zugleich auch die später sehr produktive Schar der Memminger Mundartdichter anführt. Das wenige was wir von ihm wissen verdanken wir Theodor Hildenbrand, einem Memminger Realschulrektor, der 1887 bei Kösel in Kempten die Sammlung Bayerischer Mundartgedichte  So is‘ bei’n uns in Boarnland  herausgegeben hat. Von seinem Vater lernte Müller den Beruf des Formstechers, arbeitete später aber als Anwaltsschreiber. Die bibliografischen Angaben bei Kragler und Holder stimmen zudem nicht überein. Die erste nachweisbare Ausgabe (insgesamt 16 Seiten) von ihm ist 1815 bei Christoph Müller in Memmingen erschienen unter dem Titel  Vier Gedichte im schwäbischen Dialekt und enthält A sches Abschidsliad für Bonabatlen, Bartlame, oder der Fischermittwoch, Die Martinsgans und Die Weihnachtszeit. Daneben hat er offensichtlich auch einzelne Gedichte drucken lassen und verkauft, zumindest kennen wir von ihm aus dem Jahr 1816 drei solche Einzeldrucke, ohne Angabe von Autor, Verlag oder Druckort. Dies sind Die Bierschenke, Das neue Jahr und Der Wochenmarkt. Eine Sammlung seiner Gedichte im schwäbischen Dialekt erschien posthum, da der 1782 geborene Müller bereits 1837 gestorben ist, in 3. Auflage 1840 im Verlag Carl Fischach in Memmingen. Im gleichen Verlag gab es 1856 nochmals ein Buch mit Müllers Gedichten, abermals als 3. Auflage bezeichnet. Wahrscheinlich handelt es sich um die Restauflage von 1840, die mit einem neuen Titelblatt für die O. Besemfelder’sche Buchhandlung und mit  einem neuen Druckjahr 1856 versehen wurde. Kragler nennt noch eine 4. Auflage 1877.

Vier Gedichte 1815
Die Bierschenke 1816
Das neue Jahr 1816
Der Wochenmarkt 1816

Carl Borromäus Weitzmann in Ehingen

--Cark Borromäus Weitzmann-- Jurist und Sekretär der Österreichischen Landstände in Ehingen Mundartdichter

Für den nächsten Autor müssen wir noch einmal nach Württemberg zurückgehen, doch nur eine kleine Strecke, bis nach Munderkingen und Ehingen an der oberen Donau. Dort gab Carl Borromäus Weitzmann 1803 (2. Auflage 1819). einen Gedichtband in Hochdeutsch heraus, später schrieb er, vielleicht beeinflusst durch die 1819 verbreiteten Sailerschen Schriften, überwiegend in schwäbischer Mundart. Seinen Vater, der aus Magdeburg stammte und Regimentsarzt in preußischen Diensten war, verschlug es durch eine Verletzung während des Siebenjährigen Krieges nach Munderkingen. Er wurde dort Stadtarzt, war durch seine freundliche Art beliebt, heiratete die verwitwete Hirschwirtin Maria von Neher  und wurde später zum Bürgermeister gewählt. Seinen ältesten Sohn Carl (1767 – 1828), der schon zu Schulzeiten Gedichte schrieb, ließ er in Wien Rechtswissenschaft und Philosophie studieren. Er kam dort in freundschaftlichen Kontakt mit dem Exjesuiten und Dichter Aloys Blumauer, der ihn stark beeinflusste. Nach dem Studium trat er in den Dienst des Feldkriegskommissariats in Wien, ließ sich jedoch nach wenigen Jahren als Sekretär der vorderösterreichischen Landstände nach Ehingen, der Nachbarstadt Munderkingens, versetzen. Doch schon wenige Jahre später gingen diese vorderösterreichischen Gebiete durch die territorialen Veränderungen in Süddeutschland für die Habsburger verloren und Weitzmann wurde, da seine Stelle nicht mehr existierte pensioniert (1805 vorläufig – 1810 endgültig). Von da an schlug er sich mehr schlecht als recht als Rechtsanwalt in Ehingen durch.

Auch 1870 war Weitzmann noch so bekannt, dass ein New Yorker Verlag für die amerikanischen Mundartfreunde eine Ausgabe von seinen Mundartgedichten veröffentlichte

In den frühen 1820er Jahren  erschienen mehrere Mundartgedichte vom ihm, 1822 Das in Ulm abgehaltene Landwirtschaftsfest, 1823 Der Bauernkongreß zu Poppelfingen und 1826 Das Weltgericht oder der schwäbische Jupiter in seinem Grimme. Kurz vor seinem Tod 1828 konnte er noch die Herausgabe seiner sämtlichen Gedichte regeln. Sie erschienen dann posthum 1829 beim Verlag Nast in Ludwigsburg in drei Bänden, davon Band 1+2 in reindeutscher, Band 3 in schwäbischer Mundart. Weitzmanns Sämtliche Gedichte waren ein Bestseller und wurden in vielen Auflagen bis ins 20. Jahrhundert hinein verlegt, zunächst durch den Verlag Fleischhauer & Spohn in Reutlingen, dann Emil Gutzkow in Stuttgart, Bosheyer in Cannstadt, es folgt eine Straßburger Ausgabe der Straßburger Druckerei, danach Paul Mähler in Stuttgart und viele weitere in neuerer Zeit.

Weitzmanns Sohn Friedrich gab 1853 im Selbstverlag den Poetischen Nachlass seines Vaters heraus. Der Band enthält neben den nachgelassenen Gedichten auch ein schönes Porträt, eine Kurzbiographie und eine Auswahl seiner beliebtesten Gedichte.

Nach dem Tod Weitzmanns 1828 war die bayerisch-schwäbische Bank der Mundartliteraten verwaist. Ihre Werke wurden zwar noch gedruckt, so Sailers Schriften 1826 im Verlag Stettin in Ulm, neues kam aber nicht hinzu. !842 legte der Verlag Stettin eine neue, vom Ulmer Gymnasiallehrer Konrad Dietrich Haßler zusammengestellte Sailerausgabe auf. Diese Ausgabe war äußerst erfolgreich und erlebte drei weitere Auflagen 1850, 1860 und 1893. Den Erfolg verdankte sie dem praktischen Taschenformat und neuen ansprechenden Illustrationen von Julius Nisle. Insbesondere der illustrierte Nachtitel, mit dem seinen Pfarrkindern mit der Geige aufspielenden Sailer, ist an romantischer Ausstrahlung kaum zu übertreffen und schmückt auch den Umschlag des 2023 erschienenen Butzagägaler. Leider ist aber dazu festzustellen, dass Nisles Illustration ein falsches Sailerbild in der Öffentlichkeit unterstützt und weitergetragen hat. 

Julius Nisle: Nachtitel der Haßlerschen Sailerausgabe 1842 Ulm Verlag Stettin

 

Eine interessante Anmerkung lässt sich noch zu machen, der Stettinsche Verlag in Ulm wurde 1843 vom Reutlinger Zeitungsverleger und Mundartautor Gustav Heerbrandt übernommen, nachdem er eine Ulmer Apothekerstochter  geheiratet hatte und nach Ulm gezogen war. Heerbrandt der einige Jahre später wieder nach Reutlingen zurückkehrte, beteiligte sich an den revolutionären Märzunruhen 1848, kam in Festungshaft und musste nach Amerika auswandern, wo er wieder im Druck- und Verlagsgeschäft tätig war.

Gustav Heerbrandt 1819 - 1896

Das Quodlibet curiosum des Jörg von Spitzispui

Erst 1847 nahm wieder ein Autor auf der Mundartdichterbank Schwabens Platz, doch vorsichtig und anonym, sein dünnes Bändchen Gedichte nur 8×12 cm groß, verlegt im Verlag des Albrecht Volkhart, einem freiheitlich, d.h. damals revolutionär gesinnten Druckers. Hinter dem Pseudonym verbarg sich der 1825 in Mindelheim geborene Theologiestudent Johann Georg Scheifele, der in Nachahmung Weitzmanns bereits als junger Gymnasiast mundartliche Texte schrieb.  Seine 800 gedruckten Exemplare waren innerhalb von wenigen Wochen verkauft, dass schon 1849 eine zweite, erweiterte Auflage erscheinen konnte. Erst die dritte Auflage, 1856 bei Fackler in Mindelheim, trug seinen richtigen Namen. Vierte Auflage 1863 bei Klaß in Heilbronn, die fünfte und erste posthume Auflage gab Pfarrer Kränzle aus Gennach 1883 bei Stettner in Lindau heraus, wobei er sich verpflichtet fühlte, die derben Ausdrücke abzumildern. Sie enthielt auch eine Lebensbeschreibung seines ehemaligen Mitschülers K. Ott. Ein zweiter Band von Scheifele Gedichten erschien erstmals 1869 bei Högendorfer in Mindelheim, die zweite Auflage davon 1870 bei Stettner, der 1874 schon einen dritten Band mit Mundartgedichten  unter dem Titel Mucka und Wefzga veröffentlicht hatte.

Titelblatt und Porträt der fünften und ersten posthumen Ausgabe von Scheifeles Gedichten

Der 1850 zum Priester geweihte Scheifele wurde zunächst als Kaplan in Rain a. Lech eingesetzt, ab 1857 als Pfarrkurat im nahen Niederschönenfeld und erhielt 1869 eine Pfarrerstelle in Krugzell im Allgäu. Seinen letztern Wirkungsort, an dem er 1880 auch verstarb, bezog er 1878 in Ettringen.

Weitzmann und Scheifele waren über sehr lange Zeit die beliebtesten und galten, so auch bei August Holder ausgeführt, als die besten Mundartautoren im gesamten Schwaben. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch von Scheifele eine amerikanische Ausgabe seiner Gedichte nachweisen lässt.

Titelblatt der extrem seltenen Erstausgabe von Scheifeles"Quodlibet curiosum" aus dem Jahr 1847
Erstausgabe des zweiten Bandes von Scheifeles Gedichten 1869
1883 farbenfroher Umschlag
Auch wer heute in den kleinen Weiler Spitzispui bei Mindelheim kommen will braucht sicher einen Wegweiser, denn so versteckt ist er
New Yorker Ausgabe von Scheifeles Gedichten 1870

Als Scheifele 1880 in Ettringen starb hatte sich die Autorenbasis der schwäbischen Mundartliteratur schon deutlich verbreitert. In ganz Bayerisch-Schwaben wurden Gedichte in schwäbischer Mundart veröffentlicht, im Allgäu schrieb der spätere Augsburger Bischof Max Lingg, in Mittelschwaben Hyazinth Wäckerle und Franz Keller und im Ries Johannes Kähn und Michael Karl Wild. Angeregt durch den hundertsten Todestag Sebastian Sailers 1877 erschienen in Württemberg sogar erste Arbeiten der Sekundärliteratur zu schwäbischen Mundartautoren.

Fortsetzung der Geschichte der schwäbischen Mundartliteratur auf Seite II.